Georg-Simmel-Zentrum für Stadtforschung

Programmatik und vier Schwerpunkte

Das Georg-Simmel-Zentrum für Stadtforschung (GSZ) ist die interdisziplinäre Koordinationsplattform für Stadtforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das GSZ koordiniert Aktivitäten in Forschung und Lehre auf drei Ebenen: universitätsintern, in Berlin und international. Ziel ist ein grundlegender, inter- und transdisziplinärer Beitrag zur künftigen Entwicklung von Städten.
 

Unser Verständnis von Stadtforschung

 

Zwei intellektuelle Verankerungen

 

Das GSZ steht für eine Stadtforschung, die verschiedene Standpunkte zu urbanen Phänomenen und Transformationen kombiniert und ausbalanciert. In der jüngeren Geschichte des GSZ waren Gentrifizierung, Tourismus und Stadtökologie, Kulturerbe-Industrie, Wohnungsbau, städtische Bildung, städtische Armut und Migrationsbewegungen für uns auf unterschiedliche Weise von Interesse, wobei wir uns darüber im Klaren waren, dass Ansprüche und das Recht auf Stadt ein Spannungsverhältnis erzeugen.

Urban citizenship als Ausdruck, wenn nicht gar Erzeuger von Unterschieden, und die Fragmentierung von Ansprüchen wirkt sich auf das Recht auf Stadt als universelles, alles einschließendes Ideal aus (Blokland et al. 2015). Wir haben einen Trend zu einer Diversifizierung der Interessen, einer Schwächung der Bewegungen und sogar zu einem Wettbewerb um Rechte und Ressourcen festgestellt, anstatt eine gegenseitige Solidarität zwischen verschiedenen Gruppen auf dem Weg zu einer lebenswerten Stadt zu entwickeln. Urban citizenship steht immer in Beziehung zu den Modi des Regierens. Inspiriert von James Scotts „Seeing Like a State“ zielt unsere Arbeit darauf ab, verschiedene Arten und Maßstäbe des Regierens des Städtischen zu untersuchen, wobei wir der "Stadt" als ein Set lokaler staatlicher Institutionen besondere Aufmerksamkeit schenken. Dieses Set imaginiert, reguliert, kategorisiert, klassifiziert und interveniert im Urbanen und gestaltet so Bürgerschaft und Zugehörigkeit. Aber die Stadt kann weder „gemacht“ noch geplant werden und wird immer, wie Abdou-Maliq Simone formuliert, durch Praktiken und Logiken außerhalb des Blickes des Staates entstehen, die sich Normen und Kategorien entziehen. Stadtpolitik muss Grenzen ziehen und kategorisieren, da jede politische Entscheidung eine Kategorisierung impliziert. Zwei Anker des Programms des GSZ wurden entwickelt, um diese Spannung zu adressieren. Diese Anker - – „Seeing like a City“ und „Seeing the City Through“ - wurden in unseren theoretischen Beiträgen zum Feld entwickelt und bilden die Grundlage für die meisten unserer Forschungsarbeiten in unseren thematischen Clustern.

Erster Anker: „Seeing like a City“

Lange Zeit wurden Städte und urbane Infrastrukturen mit dem Versprechen entwickelt, mit der „richtigen" Planung und der „richtigen" Politik könne die nachhaltige Stadt, die Stadt der Gerechtigkeit, die kohäsive Stadt oder die resiliente Stadt geplant und umgesetzt werden. Während die kritische Stadtforschung diese Vorstellung längst ad acta gelegt hat, stützen sich die Praktiken der Stadtverwaltung und die Umsetzung der Politik stark auf implizite Vorstellungen von der Stadt, die "gemacht" werden soll. Vor diesem Hintergrund wollen wir untersuchen, wie „Seeing like a City“ nicht nur die Komplexität des Städtischen reduziert, sondern auch neue Komplexitäten und Zwischenräume schafft.

Zweiter Anker: „Seeing the City Through“

Unsere Arbeit zielt auch darauf ab zu verstehen, wie alltägliche Praktiken und Infrastrukturen der Menschen die Stadt als unintendierte, ungeplante und gewöhnliche Form des Urbanen hervorbringen. Dieser Schwerpunkt verdeutlicht die Notwendigkeit dezentralisierter und dezentrierter Formen des Sehens und Zuhörens in der Stadt, die das Verständnis von Städten als demografische Gebilde und andere Formen des zahlenbasierten Wissens ergänzen. Dabei werden der Widerstand, die Überflutung und die Unregierbarkeit nicht-menschlicher Elemente städtischer Gebilde wie Materialien, Tiere und Klimazonen untersucht. Inkrementelles Lernen, multiple Formen des Lesens, Performativität und nicht-repräsentative Formen des Theoretisierens sind alles Beispiele für diese theoretische Perspektive.

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Scott, J. (1999) Seeing like a State. New Haven: Yale University Press.

Simone, A. (2004) For the City Yet to Come: Changing African Life in Four Cities. Durham: Duke University Press.

Blokland, T., Hentschel, C., Holm, A., Lebuhn, H. & Margalit, T. (2015) Urban Citizenship and Right to the City: The Fragmentation of Claims: URBAN CITIZENSHIP AND RIGHT TO THE CITY.” International Journal of Urban and Regional Research 39(4):655–65.

 


Vier Schwerpunkte

 

Urban In/equalities: Citizenship, Justice and Equality

Strukturelle Ungleichheiten und Konzeptualisierungen von urbanem Citizenship, sozialer Gerechtigkeit und Zusammenhalt werden auch in den kommenden Jahren die ethischen und politischen Diskurse prägen. Ein zentraler Forschungsschwerpunkt des GSZ liegt auf den Dynamiken und Mechanismen der (Re-)Produktion von Ungleichheiten, insbesondere in den Bereichen öffentlicher Raum und Citizenship, Wohnen, Bildung und Zugang zu städtischen Ressourcen. Ein Schwerpunkt sind die Auswirkungen der Brüche des sozialen Lebens in der Stadt nach COVID19, insbesondere für Frauen und ihre Care-Praktiken, um die Bedeutung der räumlichen Anordnung von Infrastrukturen für die Dauerhaftigkeit von Ungleichheit zu beleuchten.


Urban Un/sustainabilities: Nonhuman Agency and Environmental Justice

Die globale Erwärmung, Umweltverschmutzung und die daraus resultierenden globalen Gesundheitsprobleme haben weltweit entscheidene Fragen zur Nachhaltigkeit von Städten aufgeworfen, was zu erheblichen Veränderungen der städtischen Infrastruktur und Ökologie geführt hat.
Die Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeit und Nicht-Nachhaltigkeit umfassen ein breites Spektrum an Entwicklungen. Dazu gehören groß angelegte Infrastrukturprojekte zur Förderung eines grünen und intelligenten Städtebaus zur Anpassung und Abschwächung des Klimawandels, aber auch experimentelle grassroot-Bewegungen des Klimaschutzes und des Zusammenlebens mit verschiedenen Arten. Diese Transformationen gehen über die traditionellen Elemente des green-Urbanisms hinaus und beziehen verschiedene Aspekte wie Böden, Feinstaub und Mikroorganismen. Sie bringen auch umstrittene Definitionen mit sich, was für wen und aufbauend auf welchem Wissen als nachhaltig gilt. Urbane (Nicht-)Nachhaltigkeit zu untersuchen bedeutet daher das Untersuchen von aufkommenden Wissenspraktiken, Formen der Beweisführung und der Infragestellung institutionellen Fachwissens.

 

Public De/mobilisations: Researching alongsides Struggles around Decolonial and Commons-Oriented Urbanism

Städte spielen bei der Bildung und Mobilisierung von "issue publics", selbstorganisierten
Gruppen, die von bestimmten städtischen Veränderungen betroffen sind, eine zentrale Rolle. Dies ist besonders relevant im Kontext von "right to the city"-Bewegungen, Commons-orientiertem Urbanismus und postmigrantischen und dekolonialen Auseinandersetzungen mit der Stadtlandschaft. Das Konzept der städtischen Öffentlichkeit umfasst verschiedene Formen der Stadtgestaltung, darunter Protestbewegungen, Guerilla/DIYUrbanismus, Bürger*innen Initiativen, formale Partizipation, aktivistische Fachmenschen und kooperative Stadtplanung. Diese Mobilisierungen stellen Herausforderungen an die politische Entscheidungsfindung, die Wissensproduktion und juristischen Normen und sind oft mit  Infragestellung, des Othering und Policing konfrontiert. Folglich sollten Städte Räume für politische Konflikte, Wissenskontroversen und Akte von CItizenship gedacht werden.

 

Re/designing the city

Der Urbanismus als eine staatliche Kunst der Stadtgestaltung und -planung entstand im späten 19.
Jahrhundert als Antwort auf die Herausforderungen der kapitalistischen Urbanisierung und Industrialisierung. Er repräsentiert einen Eingriff in den komplexen Prozess der Urbanisierung mit
spezifischen politischen, ethischen oder ideologischen Zielen. Urbanismus ist eine rekursive Praxis, die die Überarbeitung, Problematisierung und sogar Demontage früherer urbaner Arrangements, sowie  die Neugestaltung und den Wiederaufbau des städtischen Lebens einschließt.  Um aktuelle Transformationen und Kämpfe um die Lebensformen, die Städte aufrechterhalten können zu verstehen, ist es erforderlich unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Arten städischer Verwaltung und darüber hinaus zivilgesellschaftlicher Initiativen und Akteure zu lenken.
 
Im Kontext ökologischer und demokratischer Krisen werden bürgerschaftliche Gestaltungsinitiativen jedoch zunehmend vom Staat und von politischen Entscheidungsträgern vereinnahmt und instrumentalisiert, um neoliberale und ökomodernistische Agenden unter dem Deckmantel von Partizipation und Demokratie umzusetzen. Der Übergang zu klimaneutralen Gesellschaften wird zum Beispiel oft als Problem der Neugestaltung von Städten und städtischen Infrastrukturen im Rahmen einer groß angelegten Wirtschaftspolitik wie dem New Green Deal gerahmt.
Design spielt nicht nur eine entscheidende Rolle bei der Kommunikation und Umsetzung solcher Rahmenbedingungen, sondern auch bei der Formulierung von Kritik, Widerstand und Alternativen zu ihnen. Zivile Akteure begreifen Design nicht nur als Mittel zur Schaffung nachhaltigerer Artefakte, Infrastrukturen und städtischen Umgebungen, sondern als eine Reihe von adaptiven Praktiken und Taktiken, um hartnäckige Probleme anzugehen, über urbane Zukünfte zu spekulieren, Resilienz aufzubauen und alternative Wege des Mitgestaltens und Mitbewohnens in post-anthropozentrischen Umgebungen zu erarbeiten.